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    SACHBEGRIFFE |
Finanzaffäre Koch

Im März 2000 begann die Lawine zu rollen | Auch Kevelaer war verstrickt

Hans-Jürgen Koch in AfrikaIm Frühjahr 2000 platzte die Blase. Das ganze Ausmaß der Finanzaffäre Koch wurde Zug um Zug sichtbar. Hunderte Städte in Deutschland waren in sie verstrickt, auch Kevelaer. Die Gier der Kämmerer nach höheren, bankuntypischen Zinsen hatte es dem Finanzbetrüger Koch leicht gemacht.

Hans-Jürgen Koch: Auch Stadtdirektor Heinz Paal und Kämmerer Karl Aengenheyster fielen auf den Betrüger herein.

Es war 1985, als der gescheiterte Börsenspekulant Hans-Jürgen Koch als Arbeitsloser die „Finanzberatung Koch“ ins Leben rief. Während die Gerichtsvollzieher bei ihm zu Hause ein- und ausgingen, erwarb Koch im weiten Land durch selbstbewussten Auftritt hohes Ansehen, so dass auch die Stadtverwaltung Kevelaer unter > Heinz Paal 1997 mit ihm Geschäfte machte.

Das Prinzip: Geld in der Stadtkasse, das momentan nicht gebraucht wurde, verlieh Koch an eine Gemeinde, die gerade etwas klamm war. Die versprochene Verzinsung lag über dem branchenüblichen Niveau und machte gierig und dumm: Koch telefonierte oder faxte, auf welches Konto welcher Betrag zu überweisen sei. So wurden ohne Sicherheiten Millionenbeträge zwischen den Konten von mehreren hundert Kommunen hin- und herjongliert - darunter Geld aus Kevelaer.

Nachdem die Steuerfahndung Rosenheim Kochs Haus durchsucht hatte, wurde der Skandal - noch ohne seine gewaltige Dimension zu kennen - öffentlich. Koch hatte rund 350 Kommunen in Deutschland als Kunden. Weil er Transfer-Geld für sich abgezweigt hatte, waren Löcher entstanden, die Koch nach dem Schneeballsystem stopfte, bis das Karussell zusammenkrachte.

Im März 2000 räumte die Kevelaerer Stadtverwaltung ihre Geschäftsverbindung mit Koch ein. Insgesamt, so meldeten die ersten Fernsehberichte über den Skandal, belaufe sich der Schaden an verlorenen Steuergeldern auf fast 86 Millionen Mark.

Im April 2000 wies die südafrikanische Regierung an, ihren früheren Honorarkonsul Koch nicht ausreisen zu lassen. Noch konnte sich Koch in seiner Villa am Atlantik wohlfühlen. Im Oktober 2000 vereinbarten drei erste Gemeinden, die Koch-Geldtransaktionen zwischen ihnen Schritt um Schritt rückgängig zu machen. Nach diesem Verfahren handelten viele andere Kommunen. Aber einige drohten leer auszugehen. Etliche Gemeinden wurden von anderen Gemeinden auf Rückzahlung ihres Gelds verklagt.

Wenige Monate danach wurde gegen Koch ein internationaler Haftbefehl erlassen. Rund 22 Millionen Mark, so der Verdacht, habe der Jongleur aus dem Geldkreislauf für sich abgezweigt. Zu den Gemeinden mit Koch-Geschäften zählen im näheren Umkreis neben Kevelaer auch Dinslaken und Emmerich. Mitte 2002 wurde die Stadt Kevelaer von der Stadtwerke Straubing GmbH auf Rückzahlung von ausgeliehenem Geld verklagt.

Hans-Jürgen Koch wurde nicht ausgeliefert und nicht zur Rechenschaft gezogen: Er starb in Namibia.

Über Emmerich schwebte noch Ende 2008 das Damoklesschwert einer Rückzahlung von 1,3 Millionen Euro. Kevelaer soll mit einem blauen Auge davongekommen sein. Nie wurde in einer öffentlichen Sitzung Kevelaers riskantes Spiel aufgearbeitet.

Nachdem ein KB-Bericht die Verstrickung Kevelaers in die Finanzaffäre aufgedeckt hatte, war Schweigen im Walde: Kein einziges kritisches Wort der Ratsmitglieder ist überliefert.


Wie die Geschichte in Kevelaer aufflog:

Anfang Juni 2002 machte das Kevelaerer Blatt den Skandal öffentlich: "Rathaus beteiligte sich am Schneeballsystem / Jetzt wird die Stadt auf Zahlung von 500.000 Mark verklagt" war der erste Bericht über die Koch-Finanzaffäre überschrieben:

Es ist nicht zu fassen: Hunderte von Kommunen in Deutschland haben jahrelang Millionen hin- und hergeschoben und dabei einem windigen „Finanzberater“ blind vertraut. Kevelaers Bürgermeister Heinz Paal hielt bisher unter der Decke, dass auch Kevelaer heimlich beim „Hütchenspiel“ des per Haftbefehl gesuchten Finanzgauklers jahrelang „mitgezockt“ hat.

Der Mann, dem alle auf den Leim gegangen sind, heißt Hans-Jürgen Koch, Jahrgang ‘48: Mittlere Reife, Banklehre, verkrachter Börsenmakler in Frankfurt, Schmuckwarenverkäufer, fristlos gekündigter Finanzvermittler eines Unternehmens und arbeitslos im Sommer 1985.

Das ist das Jahr, in dem die Stadt Kevelaer ihre Zusammenarbeit mit Koch beginnt. Gerade hat Heinz Paal seinen Stuhl gewechselt - vom Kämmerer zum Stadtdirektor.
Koch ist auf eine grandiose Geschäftsidee gekommen: Er hört sich um, welche Gemeinde gerade Geld braucht und welche im Moment Geld übrig hat. Er vermittelt Termingeld von Gemeinde A zur Gemeinde B und kassiert dafür Provision. Die Zinsen, die die Geber-Gemeinde bekommt und die die Nehmer-Gemeinde zahlen muss, liegen über denen von Banken und Sparkassen. Einige reiche Kommunen in Deutschland verschaffen sich so jährliche Zinserträge in sechsstelliger Höhe.

Alle verdienen an dem System, und dass die zinszahlende Gemeinde mehr aufwänden muss als sie müsste, wenn sie zu ihrer Sparkasse gegangen wäre, stößt keinem der über 300 Stadtdirektoren, Kämmerer und Kassenleiter übel auf. Auf die Idee, das könnte ein Verstoß gegen die Pflicht zum wirtschaftlichen Umgang mit Steuergeldern sein, kommt niemand.

Auch interessiert sich niemand für Kochs Vergangenheit und Referenzen. Während der „Finanzberater“ im Jahr 1985 beispielsweise der Stadt Kevelaer seine ersten Offerten unterbreitet, kommt jeden Mittwochnachmittag der Gerichtsvollzieher in Kochs luxuriöses Landhaus bei Bad Heilbrunn und lässt sich einen Scheck geben. Der verschuldete „Finanzberater“ wird von seinen früheren Gläubigern „gnadenlos“ verfolgt.
Obschon eine solche Wirtschaftsauskunft leicht zu bekommen ist, lassen sich die Kommunalbeamten von der unverhofften Geldvermehrung blenden und schicken zum Teil Millionenbeträge per Blitzgiro los, sobald Koch in einem oft dürren Fax dazu auffordert.

In vielen Fällen haben die Geld gebenden Gemeinden keine Ahnung, welche Kommune beglückt werden soll - Hauptsache, zum verabredeten Termin ist das Geld wieder da, und zwar mit Zinsen im Gepäck. Dass immer etwas faul ist, sobald die Kreditkonditionen von den aktuellen der Banken und Sparkassen deutlich abweichen, hat Deutschlands Steuerverwalter 15 Jahre lang nicht gestört. Selbst als im Jahr 1995 - mittlerweile hatte Koch eine in die Hunderte gehende Kundschaft aus Kommunen, Kreisen und anderen Körperschaften - das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen brieflich warnt, dass Geldgeschäfte nach dem Koch'schen Muster „langfristig nicht unbedenklich“ seien, wird fleißig „weitergezockt“. Eine förmliche Anweisung, mit Koch keine Geschäfte mehr zu machen, bleibt nämlich aus.

Im selben Jahr bahnt sich der Skandal an, der dann Anfang 2000 zum Zusammensturz des Schneeballsystems führt: Der Finanzleiter einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung in Osnabrück, ein sehr guter Kunde von Koch, schreibt im Mai 1995, wie wir heute wissen, seinem Privatkonto einen Scheck über 50.000 DM gut, den Koch gezeichnet hat. Zwei Jahre später - 1997 - lässt sich dieser Mann von dem „Finanzberater“ einen 14-tägigen Urlaub auf Kochs Jagdfarm La Rochelle in Namibia (Kosten für zwei Personen: 7600 DM) finanzieren. Vier Tage nach der Rückkehr aus Namibia überweist der Osnabrücker erstmals direkt an Koch: 700.000 DM. Damit hat Koch als der entscheidende Strippenzieher die Gelegenheit, Gelder für private Zwecke umzuleiten.

Auf einmal fehlen große Summen im Kreislauf der geheim gehaltenen Schattenwirtschaft deutscher Kommunen. Das Schneeballsystem beginnt. Nun bekommt Gemeinde A von Gemeinde C Geld überwiesen, obwohl doch Gemeinde B das Darlehn gekriegt hat. Man wundert sich und schweigt, auch dann, als dem Finanzjongleur der Fehler unterläuft, einer Gemeinde ein Darlehn zurückzuzahlen, das sie noch gar nicht gewährt hat.

Statt alarmiert zu sein, will die kommunale Kundschaft darin eher ein Indiz für überaus große Seriösität sehen. Das geht so weit, dass auf die unter Banken üblichen Sicherheiten wie Schuldurkunden öfter mal verzichtet wird.

1997, also mitten im laufenden Kettenkreditspiel, steigt Kevelaer aus dem Schneeballsystem aus. Zwei Jahre vor seiner Wahl zum hauptamtlichen Bürgermeister glaubt Heinz Paal, die Geschichte unter der Decke halten zu können. Die Konten der Stadt sind ausgeglichen, und im übrigen: Kein Ratsmitglied, kein Rechnungsprüfungsausschuss, keine Aufsichtsbehörde interessiert sich für die 15-jährige Zusammenarbeit mit Koch.

Bis Ende 1999 lenkt der Jongleur aus einem Anbau seines Wohnhauses in Bad Heilbrunn die Steuerschieberei, für die er immer mehr frisches Geld braucht, um die größer werdenden Löcher zu stopfen und um nicht aufzufallen. Wer jetzt noch mit Koch Geschäfte macht, ist der Dumme, den die Hunde beißen - Dutzende von Gemeinden sind es, und der Schaden reicht an einen dreistelligen Millionbetrag heran.

Aber noch ahnt niemand etwas davon, dass das Betrugsgebäude unmittelbar vor dem Zusammenbruch steht. Anfang 2000 rückt die Steuerfahndung Rosenheim dem Hans-Jürgen Koch auf den Pelz und wird bei einer Hausdurchsuchung so fündig, wie es sich die Fahnder nicht im Traum hätten vorstellen können.

Als fest steht, dass eine kommunale Einrichtung in Osnabrück um mehr als sechs Millionen Mark geprellt worden ist, wird der Skandal öffentlich. Der Leiter der Finanzabteilung wird mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert, später fristlos entlassen und sogar verhaftet. Langsam begreifen die Fahnder das ganze Ausmaß des Betrugs: Koch hatte Hunderte - man spricht von 350 - Kommunen in Deutschland als Kunden.

Koch entzieht sich dem Zugriff durch Flucht nach Namibia, für das er mal Honorarkonsul war und wo er vor geraumer Zeit eine riesige Farm erworben hat. Hier fühlt er sich als leidenschaftlicher Großwildjäger wohl und kann zudem Geld machen: Das Refugium „La Rochelle“ nimmt zahlende Gäste auf, die zum Festpreis Großwild abknallen dürfen. Das Wild wird zu diesem Zweck ins abgezäunte Areal geschafft.
Gegen Koch ermittelt die Staatsanwaltschaft München, die ihn mit internationalem Haftbefehl „suchen“ lässt. Aber man kommt nicht an ihn heran, weil kein Auslieferungsvertrag besteht.

Kaum wird im Frühjahr 2000 der Skandal in Deutschland ruchbar, veranlasst Kevelaers Bürgermeister Paal, dass sein Werksausschuss hinter verschlossenen Türen über die Verbindung Kevelaers zu Koch informiert wird. Sorgen macht sich wohl niemand, denn nach außen dringt nichts. Wenige Tage nach der Enthüllung im Kevelaerer Werksausschuss berichtet der „Länderspiegel“ (ZDF) über Koch und sein Schneeballsystem. Gleichzeitig entsteht ein in der deutschen Pressegeschichte einmaliges Netzwerk zahlreicher Zeitungen, die Tag für Tag neue Unglaublichkeiten aus deutschen Rathäusern ans Licht bringen. Die Zeitungen, oft auch kleine Lokalblätter, tauschen ihre Informationen untereinander aus, so dass immer mehr Menschen erfahren, wie sorglos mit Steuergeldern umgegangen worden ist.

In Kevelaer wird absolutes Stillschweigen eingehalten. Niemand außer den paar Insidern ahnt, dass Kevelaer etwas mit dem immer höher kochenden Skandal zu tun haben könnte. Als der Bund der Steuerzahler die sofortige Einschaltung der Bezirksregierung als Kommunalaufsicht fordert und Landesgeschäftsführer Bernhard Zentgraf es zudem für „nicht fassbar“ hält, dass die hohe Verzinsung der ausgeliehenen Gelder niemanden stutzig gemacht hat, glaubt man hier am Niederrhein: Das betrifft uns nicht. Derweil prüft der Bund der Steuerzahler den Vorwurf „grober Fahrlässigkeit mit entsprechenden Regressmöglichkeiten“ gegenüber Kommunalbeamten.

Anderswo geht man anders mit der Öffentlichkeit um. Reihenweise geben in Deutschland Städte, Gemeinden und Kreise Pressemitteilungen heraus und stehen damit wenigstens zu dem, was von der Rathausspitze getan worden ist. Gleichwohl - kein Verwaltungschef, kein Kämmerer ist später zur Rechenschaft gezogen worden, und niemand hält es für nötig, die Verantwortung für den Schaden zu übernehmen. Nein, sie seien einem Betrüger aufgesessen.

Hektisch versuchen die hereingelegten Rathausspitzen, den Werdegang der Gelder nachzuvollziehen. Einzelne Kommunen verabreden Sonderwege, rechnen ihre Forderungen gegeneinander auf und gleichen sie aus. Andere liegen jahrelang vor den Gerichten im erbitterten Streit, wer wen übers Ohr gehauen hat und wer was von wem zu kriegen hat. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund richtet eine Clearingstelle für die Gemeinden ein, bei denen es dumm gelaufen ist. Die scheint nicht zu funktionieren, denn eigentlich fallen alle über alle her. Eine gigantische Prozesskostenwelle droht weitere Steuergelder in Millionenhöhe zu vernichten. Von einem Solidaritätsfonds zu Gunsten der geprellten Gemeinden will kaum eine Kommune was wissen, denn so lange sie nicht selbst bluten muss, hält sie lieber unter der Decke, dass sie mit zu den „Tätern“ gehört.

Mitte April 2000 wird dem mit internationalem Haftbefehl gesuchten Finanzmakler Koch auch in Namibia der Boden zu heiß. Die Regierung in Windhoek hat alle Flughäfen angewiesen, ihren früheren Honorarkonsul nicht ausreisen zu lassen. Koch will, so eine unbestätigte Information, eine Villa am Atlantik und ein Haus in der Hauptstadt zum Verkauf anbieten, ebenso seine beiden Flugzeuge, zwei Mercedes-Limousinen und mehrere Pferde. Seine Jagdfarm „La Rochelle“ soll er bereits an seine Lebensgefährtin überschrieben haben.

Anfang Mai 2000 gibt Paal wieder ein paar Informationen zur Finanzaffäre frei, diesmal in nichtöffentlicher Sitzung des Haupt- und Finanzausschusses Kevelaer. Damit macht der Bürgermeister die Ratsmitglieder zu Mitwissern, die allerdings mit dieser Verantwortung kaum umgehen können, denn sie verfügen bei weitem nicht über ein realistisches Bild vom Ausmaß des Skandals.

Nun kommt heraus, dass Finanzmakler Hans-Jürgen Koch offenbar auch Schmiergelder gezahlt hat: 15 Tage nach der Information im Kevelaerer Hauptausschuss wird der Leiter des Rechnungsamtes in Grenzach-Wyhlen wegen des Verdachts der Bestechlichkeit und der Untreue verhaftet: Er soll private Zahlungen von 140.000 DM von Koch entgegengenommen haben.

In Böblingen schalten zwei Tage später die Grünen die Rechtsaufsichtsbehörde des Regierungspräsidenten ein. Begründung: Niemand in der Stadtverwaltung wolle die Verantwortung für Rechtsverstöße und Leichtsinn übernehmen. Auf fast 13 Millionen Mark Schaden ist die Stadt bisher sitzen geblieben. Der Regierungspräsident bescheinigt der Stadt Böblingen, „dass die jetzt eingetretene Situation ganz offensichtlich auf unzureichende Kontrollen bei der Vereinbarung und der Abwicklung der Termingeldanlagen zurückzuführen ist. Eine Untersuchung der Arbeitsabläufe im Kämmereiamt hätte zu einer Änderung der bestehenden Praxis führen können. Eine solche sei aber rund zehn Jahre lang unterblieben. Es könne in Betracht kommen, dass Schadenersatzansprüche gegen Bedienstete geltend gemacht werden. Im gebeutelten Ortenaukreis wird der Leiter des Rechnungsprüfungsamtes gefeuert.

Doch die Insider im Kevelaerer Rathaus sind angesichts solcher sich jagender Hiobsbotschaften nur bedingt beunruhigt: Kevelaer habe ja früh genug aufgehört. Die Konten seien ausgeglichen, Schäden nicht entstanden.

Es ist, wie sich zeigen wird, eine krasse Fehleinschätzung der Wirklichkeit.

Das Fernsehmagazin „report aus München“ berichtet am 23. Oktober 2000 schonungslos über den ehemaligen Honorarkonsul. Titel: „Die krummen Geschäfte des Hans-Jürgen Koch“. Seit mehr als sechs Monaten, so berichtet „report“, sind die Fahnder der Arbeitsgruppe Konsul im bayerischen Weilheim damit beschäftigt, Licht in das Dunkel einer unübersehbaren Zahl dubioser Finanzgeschäfte zu bringen. In den Regalen stapeln sich die Ermittlungsakten: Insgesamt über 500 Ordner.

Irgendwo in diesem Sammelsurium steckt auch Kevelaer, aber das darf die Öffentlichkeit immer noch nicht wissen. Das Rathaus hält dicht. Derweil erklärt Helmut Dedy vom Deutschen Städte- und Gemeindebund: „Es war ein ausgeklügeltes Schneeballsystem, und aus diesem Kreislauf, der da entstanden ist, scheint Herr Koch ab und an mal etwas abgezweigt zu haben, das ist dann so gelaufen, dass einzelne Städte und Gemeinden wohl auch unmittelbar an Herrn Koch gezahlt haben, und das ist dieser Schaden, über den wir im Moment spekulieren - in einer Höhe von 50 bis 100 Millionen D-Mark“.

Wie Koch es geschafft hat, Steuergelder auf sein Privatkonto zu lenken, zeigt sich im Fall Sprockhövel in NRW: 1994 nimmt die Stadt ein langfristiges Darlehen von 2,6 Millionen Mark direkt bei Koch auf. Das Geld aber kommt nicht von Koch persönlich. Der lässt vielmehr Bonn und Eschweiler die Millionen überweisen. Sprockhövel indessen zahlt die fälligen Kreditraten plus Zinsen direkt auf das Privatkonto von Koch zurück. Die Sache fliegt auf, als Eschweiler das Geld von Sprockhövel zurückhaben will. Eine Posse, wenn die Geschichte nicht kriminell wäre.

Der Bund der Steuerzahler ist fassungslos über so viel Leichtgläubigkeit in deutschen Amtsstuben. Eberhard Kanski, Bund der Steuerzahler NRW: „Also es gibt einige Stadtkämmerer, die hätten sicherlich Chancen in eine Laienspielschar aufgenommen zu werden, denn die Sorgfalt beim Umgang mit dem Geld des Steuerzahlers ist in vielen Fällen missachtet worden.“ Direkt veruntreut worden sind nach Schätzungen insgesamt 22 Millionen Mark. Koch soll, so ein weiterer Vorwurf, dafür Helfer in einigen Kommunen gehabt haben, die er bestochen hat. Empörung anderswo in allen Parteien, nur nicht in Kevelaer. Der CDU-Stadtverband Detmold beispielsweise stellt Ende Oktober 2001 öffentlich die Haftungsfrage. Und: „Wann folgen der Forderung des nordrhein-westfälischen Städte- und Gemeindebundes nach Konsequenzen wie Geltendmachung von Schadensersatz und Disziplinarverfahren gegen die verantwortlichen Beamten Taten?“

Zum ersten Mal kommt Kevelaer am 25. Februar 2002 ins Spiel. Das Magazin „Markt“ (WDR) strahlt seine Sendung aus: „Gemeinden fallen auf dubiosen Kreditvermittler rein“. Berichtet wird, alle Gemeinden hätten irgendwann den Überblick verloren, zumal vieles nur mündlich abgemacht worden sei. Jetzt kämen die „teuren Prozesse“. Allein der Prozess Eschweiler gegen zwei Gemeinden habe den Steuerzahler 200.000 Mark gekostet.

Und dann veröffentlicht „Markt“ die Liste von 25 nordrhein-westfälischen Städten, Gemeinden und kommunalen Einrichtungen, die Koch vertraut haben, darunter befinden sich Dinslaken, Emmerich, Kevelaer, Mettmann, Mönchengladbach, Nettetal, Radevormwald und Tönisvorst. Der WDR: „Doch selbst das ist nur die Spitze des Eisbergs“.

Auf die meisten kommen teuere Prozesse zu. „Zurzeit sind Prozesse im Streitwert von über 20 Millionen Mark bekannt“ - in einen davon ist jetzt Kevelaer verwickelt. Nun will sich Paal in nichtöffentlicher Ratssitzung absegnen lassen, dass ein Anwalt mit der Wahrnehmung der Interessen der Stadt Kevelaer beauftragt wird. Vor mindestens fünf Jahren sind nämlich 506.000 Mark zwischen Kevelaer und der Stadtwerke Straubing GmbH geflossen. Dieses Geld plus Zinsen will Straubing von Kevelaer jetzt wiederhaben. Kevelaer hat es aber nicht mehr, denn es wurde - so scheint es - an die 6.500-Seelen-Gemeinde Wiernsheim bei Pforzheim verliehen. Sollte Straubing mit seiner Klage gegen Kevelaer Erfolg haben, will Paal im Gegenzug Wiernsheim auf Herausgabe von 506.000 Mark plus Zinsen verklagen. Und dafür sollen die Ratsmitglieder ihm jetzt grünes Licht geben.

Derweil führt Rita Schwalm, die Lebensgefährtin des flüchtigen Finanzgauklers, die Guest & Hunting Lodge La Rochelle in Namibia. Dort bietet der Gastgeber vier Doppelzimmer, zwei Einzelzimmer und zwei Familien-Suites. Es fehlt an nichts: Restaurant, Bar, Swimmingpool, Poolbar, Barbecue-Area, Tennisplatz, Fitness-Center, Sonnenstudios und Pferdekoppel. Und wer richtig Geld mitbringt, kann den Abschuss von Großwild buchen.

Soweit die Geschichte des Hans-Jürgen Koch und der von ihm bedienten Kommunen. Koch konnte, wie oben erwähnt, nie zur Rechenschaft gezogen werden: Er starb in Afrika. In den Jahren seit Bekanntwerden von Kevelaers Verstrickung in die Finanzaffäre befasste sich in öffentlicher Sitzung kein politisches Gremium mit diesem Thema. Das Versagen in den 1980- und 1990er-Jahren wurde nie aufgearbeitet.

© Martin Willing 2012, 2013