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Gastwirtin aus Kervenheim | * 1927 | † 2013
Im
August 2000 feierte Anneliese Brouwers ein besonderes Jubiläum: Vor 50
Jahren, 14 Tage vor der Kervenheimer Kirmes, hatte sie mit ihrem Mann
Clemens die Gaststätte an der Winnekendonker Straße in Kervenheim
übernommen, die nun schon mehr als 100 Jahre in Familienbesitz ist.
Miriam Etzold führte aus diesem Anlass mit der Jubilarin das folgende
Gespräch:
Bitte erzählen Sie ein bisschen von früher. Wie begann alles?
Während des Krieges kümmerten sich die Schwestern meines Mannes, Johanna
und Jakobine, um die Wirtschaft. Sie gehörte eigentlich dem Bruder
meines Mannes, der von Beruf Dachdecker war. Er hatte aber kein
Interesse an der Gaststätte und bot sie meinem Mann Clemens an, als der
1948 aus der Gefangenschaft zurückkehrte. Nach dem Krieg war die Kneipe
einige Jahre geschlossen. Als mein Mann und ich sie wieder eröffneten,
waren wir noch gar nicht verheiratet. Die Hochzeit folgte erst am 6.
Oktober 1950. Ich weiß noch genau, früher gab es neun Wirtschaften in
Kervenheim, heute sind es noch drei.
Sind Sie gebürtige Kervenheimerin?
Nein, ich komme aus Sonsbeck. Durch meine Schwester Maria lernte ich
meinen späteren Mann kennen. Wir feierten gemeinsam die Kervenheimer
Kirmes. Das war 1949. Ich war 22, mein Mann wurde damals 30 Jahre alt.
Haben Ihr Mann und Sie sich gemeinsam um die Gäste gekümmert?
Nein. Mein Mann hat als Schreiner bei meinem Schwager gearbeitet. Früher
war das so: Die Frau führte die Wirtschaft, und der Mann ging arbeiten.
Mein Mann ging auch gar nicht gerne in die Wirtschaft. Wenn es mal spät
wurde, sagte er: „Schick doch die Leute nach Hause.“
Sie haben bestimmt einige Geschichten einsamer Menschen gehört. War
das nicht sehr anstrengend?
Ach was! Man kann sich vieles erzählen lassen. Das Meiste geht in das
eine Ohr rein und bei dem anderen wieder raus. Gelegentlich trank schon
mal jemand einen über den Durst, aber Streit hat es nur selten gegeben.
Hatten Sie gelernt, eine Wirtschaft zu führen?
Nein, ich hatte gar nichts gelernt. Ich war bis dahin nur zu Hause
gewesen. Nach der Volksschule habe ich die Frauenschule in Xanten
besucht. Das war es. Wir waren mit acht Kindern. Während des Krieges
haben wir viel genäht, und nach dem Krieg mussten wir ordentlich
schuften, um unser Haus in Sonsbeck wieder aufzubauen. Für eine Tüte
Milch habe ich Gott weiß was getan.
Wie sah die Wirtschaft damals aus, als Sie sie übernommen haben?
Es gab nur den Raum, in dem heute die Theke steht. 1953 bauten wir den
hinteren Teil an, 1958 den Saal. Im Nachhinein gesehen, hätten wir statt
dessen besser eine Kegelbahn eingerichtet. 1968 haben wir unser Wohnhaus
hoch gezogen.
Hat sich das „Kneipenverhalten“ im Laufe der Zeit verändert?
Ja, früher tranken die Menschen viel mehr Schnaps. Da gab es drei Stück
für eine Mark. Wir hatten riesige Schnaps-Ballons im Keller. Die Leute
kamen und holten sich einen Viertelliter, den sie dann mit nach Hause
nahmen. Heute wird deutlich mehr Bier ausgeschänkt.
Wer kommt heute zu Ihnen?
Die Jungs vom Fußballverein Union Kervenheim sind mir treu. Für die habe
ich 20 Jahre die Trikots gewaschen, weil es sonst niemand machen wollte.
Jeden Sonntag kommen sie zum Frühschoppen. Mit fünf Mann knobele ich
montags, und am Donnerstag treffen wir uns zum Darten. Über 30 Jahre
besuchen mich die „Alten Herren“ von Kevelaer nach ihrem Training in der
Turnhalle von Kervenheim. Es sind sowieso mehr die älteren Herrschaften,
die kommen. Weniger die Jungen. Für die gibt es genug anderes, und mit
den strengen Kontrollen darf man ja auch nicht mehr so trinken wie
früher.
Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft? Sie sind nun 73 Jahre alt.
Werden Sie mal in Rente gehen?
Ach, ich möchte 100 Jahre alt werden - und so lange es geht die
Wirtschaft weiterführen. Ich habe hier soviel Freude gehabt. Ich muss
nicht verreisen, da bin ich gar kein Mensch für. Zuhause fühle ich mich
am wohlsten. Ich weiß noch, das ist jetzt 35 Jahre her, da bin ich mit
meinem Mann das erste Mal in Urlaub, nach Brilon, gefahren. Ich saß auf
einer Bank und fing plötzlich ganz fürchterlich an zu weinen. Ich musste
an meinen kleinen dreijährigen Sohn und seine beiden Geschwister denken,
die ich nicht bei mir hatte.
Und am Freitag begehen Sie Ihr Jubiläum?
Ja, um 18.30 Uhr empfange ich die Gäste. Ich backe Schwarzbrot und
Weißbrot und belege Schnittchen. Wir werden schön feiern, ganz im Sinne
meines Mannes, der vor zwei Jahren gestorben ist. (Anneliese Brouwers
schluckt, bevor sie weitererzählt.) Er wollte nur noch mal zum Apfelbaum
gehen. Wenig später fanden wir ihn tot darunter. Jeden Tag gehe ich nun
zum Friedhof. Wir haben eine wirklich gute Ehe geführt. Ich vermisse
ihn. In diesem Jahr hätten wir unsere Goldene Hochzeit gefeiert, nun
feiere ich unser Jubiläum im Kreise unserer Freunde.
[In Gedanken daran kehrt das Strahlen in Anneliese Brouwers’ Augen
zurück. In diesem Moment betritt der erste Gast des Abends das Lokal.
„Ja, Klaus“, begrüßt sie ihn, „die Tageslast getragen? Ist schwül
draußen, was?“ Sie geht zur Theke und zapft ein Bier.]
Frühjahr 2013...
Es erscheint ihre Todesanzeige. Anneliese Brouwers, geboren am 5.
Februar 1927, stirbt am 27. Mai 2013. Sie wird am 1. Juni in Kervenheim
zu Grabe getragen.